Nach 238 Jahren vollendet
Die Hauptorgel der Basilika St. Martin in Ulm-Wiblingen wurde am Pfingstsonntag eingeweiht
Musik und Architektur seien miteinander verwandt - diese These wurde bereits in der Antike vertreten. So entsprechen die Proportionen der Intervalle oft den Verhältnissen der Längen-, Breiten- und Höhenmaße der Baukunst. Johann Wolfgang von Goethe nannte die Architektur in seinen Maximen und Reflexionen (1833 posthum) eine "verstummte Tonkunst". Diese nur mit den Augen empfundene Musik, deren vollkommene Proportionen den im frühklassizistischen Stil durchkomponierten Kirchenraum in Ulm-Wiblingen bestimmen, musste über 230 Jahre auf ihre Vollendung warten.
Die Klosterkirche der ehemaligen Wiblinger Benediktinerabtei bildet heute den krönenden Abschluss der Oberschwäbischen Barockstraße. Bei ihrer Einweihung am 28. September 1783 war das imposante Bauwerk noch nicht vollständig fertiggestellt. Die zwei Türme und die große Orgel fehlten. Die Chororgel auf der Epistelseite des Chorgestühls wurde 1780/81 durch „Den in Schwaben berühmtesten Orgelmacher“ Johann Nepomuk Holzhey aus Ottobeuren gefertigt. Das Instrument hatte 24 Register auf 2 Manualen mit insgesamt 1732 Pfeifen und kostete damals 2200 Gulden. Ihre Funktion war zu allererst die Begleitung des Gesanges der Mönche. Diese Orgel ist leider nicht mehr erhalten. Während des ersten Weltkrieges wurde das Pfeifenmaterial eingeschmolzen. Um den Gemeindegesang begleiten zu können, wurde noch während des Krieges von der Firma Link/Giengen eine neue pneumatische „Kriegsorgel“ mit 17 Register auf zwei Manualen in das nördliche Chorgestühl gestellt. Weil diese aber sehr störungsanfällig war, musste eine Lösung gefunden werden. In den 70er Jahren wurde beschlossen, die eingeschmolzenen Pfeifen der Holzhey-Chororgel nicht zu rekonstruieren, sondern durch ein neues Instrument zu ersetzen. Nur die originalen Registerbeschriftungen von Holzhey sind noch im Chorgestühl zu finden, in das Gehäuse hat 1974 Firma Reiser aus Biberach/Riß nach den Entwürfen von Dr. Walter Supper eine größere Chororgel mit 30 Registern auf 2 Manualen eingebaut. Diese Orgel begleitet den Gemeindegesang bis heute, dem voluminösen Gotteshaus mit viel Nachhall konnte sie aber nicht gerecht werden.
1784 besuchte Johann Nepomuk Hauntinger - der Bibliothekar aus dem Benediktinerkloster St. Gallen - die neu eingeweihte Kirche in Wiblingen und schreibt: „Die große Orgel ist noch nicht aufgestellt und wird ungemeine Summen kosten. …“ Das teilweise verdeckte Mittelfenster der Westempore ist ein architektonischer Hinweis, dass hier der Platz für das Hauptinstrument, ähnlich wie in Neresheim, angedacht war. Das Errichten einer dem monumentalen Raum würdigen Hauptorgel wurde aber 1806 durch die Säkularisation verhindert. Der 2015 gegründete Orgelförderverein hat sich zum Ziel gesetzt, diese architektonische Lücke auf der Empore zu schließen und die fehlenden Töne der erstarrten Musik mit einem nach Holzheyschem Vorbild gebauten, aber modernem Instrument zu füllen. Intensive Recherchen in verschiedenen Archiven konnten keine weiteren Details zu den Plänen von damals, etwa einen Prospekt- oder Dispositionentwurf von Holzhey oder einen Briefwechsel in dieser Thematik ans Tageslicht bringen. So hatten die angefragten Orgelbaufirmen die Möglichkeit, ihrer Fantasie und ihren schöpferischen Gedanken freien Lauf zu lassen. Den Ideenwettbewerb gewann die Orgelbaufirma Claudius Winterhalter aus Oberharmersbach. Ihr gelang eine Symbiose zwischen Tradition und Gegenwart sowohl auf der architektonischen Ebene als auch unter klanglichem Aspekt. Der Prospekt greift die vertikalen und horizontalen Proportionen des Raumes auf, nimmt die Tradition eines Holzhey´s in sich auf und lässt in dem klassizistischen Raum ein zeitgenössisches „Musikinstrument-Kunstwerk“ entstehen, das nach 230 Jahren der „verstummten Tonkunst“ endlich eine klangstarke eigene Stimme gibt. Die mit glänzenden Gold-Einschmelzungen veredelten Glas-Elemente der fünf Pfeifenfelder aus der Neurieder Dekorglas-Werkstatt von Heinz und Rudi Teufel greifen die goldenen Kapitelle auf. Das Gehäuse wurde von Friedrich Haser unter Verwendung von Dispersionsfarben in Grau über Weiß mit Goldockertönen gestaltet. Es bildet eine farbliche Einheit mit dem gegenüberliegenden Hochaltar. Die verwendeten Wisch- und Spachteltechniken geben der Gehäuseoberfläche eine wandähnliche Struktur.
Auch in den kleinen Details steckt viel Liebe und ein hoher ästhetischer Anspruch. Der Arbeitsplatz des Organisten ist schlicht, übersichtlich, ergonomisch und funktional gehalten, die Registerzüge lassen sich gut erreichen, die Druckknöpfe der Setzeranlage sind unter das erste Manual angeordnet, ein Display ist dezent über dem dritten Manual angebracht. Dieser Spieltisch, der durch einen mit weißer Speziallackierung behandelten Rahmen aus dem Orgelgehäuse auch optisch herausgehoben wird, lädt trotz seiner Funktionalität zum Musizieren ein. Das wird auch durch Verwendung von edlen Materialien erreicht. Das Stirn- und Kniebrett wurde aus Riegelahorn gefertigt und mehrfach mit Schellack auf Hochglanz poliert, die Manubrien haben weiße Porzellanschildchen, die Klaviaturbacken sind mit Ebenholz verkleidet. In das aus Nussbaumholz gefertigte Notenpult ist ein unsichtbarer Magnetstreifen eingearbeitet. Mit den in der rechten Schublade liegenden kleinen Metallstempeln lassen sich ein loses Notenblatt, Notizen für eine freie Improvisation oder ein Ablaufzettel für den Gottesdienst befestigen. Die Spieltraktur ist mechanisch, läuft leichtgängig und vermittelt ein angenehmes Spielgefühl. Die Koppeln II/I, II/P und I/P sind, um ein einfühlsames Spiel auch mit gekoppelten Manualen zu ermöglichen, rein mechanisch, alle anderen Koppeln sind elektrisch. Die Registersteuerung wurde als aufwendige Doppelregistratur gebaut, um eine moderne digitale SPS-Einheit in das System einbinden zu können, die das Speichern von Klangkombinationen ermöglicht. Eine heutzutage fast schon unerlässliche Arbeitshilfe auf der Orgelbank.
Die 54 Register der Orgel sind nicht auf Lautstärke getrimmt, sie lassen sich durch die fein abgestuften und farbenreichen Klänge des oberschwäbischen Barocks inspirieren, jedoch wurde das Klangkonzept so weiterentwickelt, dass auch Werke späterer Epochen adäquat wiedergegeben werden können. Die 3387 Pfeifen haben reichlich Platz, ihren eigenen Klang zu entfalten. Sie wurden alle auf einer Ebene untergebracht und dadurch ideale Bedingungen für die Klangabstrahlung- und Verschmelzung sowie für die Stimmhaltung geschaffen. Unterstützt durch die vielen glatten Reflexionsflächen, können sie überall im Raum mit Klarheit „sprechen“.
Die Orgelbaufirma Claudius Winterhalter baut gern delikate Koloriten in ihre Instrumente. In Wiblingen gibt es eine horizontale Labialpfeifenreihe mit Namen „Kavalflöte“. Das Vorbild für diese exotische Bezeichnung war eine am unteren Lauf der Donau verbreitete, schräg angeblasene und leicht trichterförmige Hirtenflöte. Die horizontale Positionierung generiert im Raum die Illusion, dass neben der Orgel jemand mit einer Flöte in der Hand steht und mitspielt. Auch die „Vox humana“ mit Bechern aus Birnenholz wurde extra für Wiblingen entwickelt, sie hat einen runden, weichen Klang. Die Glockencymbel ist sogar schwellbar, sie hat nämlich ihren Platz im Schwellwerk an der Decke, ein selten anzutreffender Effekt.
"Die Ausgewogenheit zwischen Grundton, Vokalformanten, Eigentimbre und stimmlicher Brillanz sind die Voraussetzungen für den großen Orgelklang" sagt Intonateur Kilian Gottwald, der auch die "Bach-Orgel" der Leipziger Thomaskirche intoniert hat. Ihm ist es gelungen, dem starren Pfeifenmaterial Leben einzuhauchen und jedem einzelnen Register eine charakteristische, lebendige Farbe zu geben. Werden diese miteinander kombiniert, entstehen durch akustische Überlagerungen wiederum neue Klangfarben. Das Instrument wird den hohen künstlerischen Anforderungen gerecht, die noch auf die kirchenmusikalische Tradition der Benediktinermönche zurückgehen.
Dass das Projekt in nur fünf Jahren realisiert werden konnte, ist dem unermüdlichen Engagement von Dekan Ulrich Kloos zu verdanken, der zusammen mit den Mitgliedern des Orgelfördervereins viele Menschen zum Übernehmen einer Orgelpfeifen- oder Registerpatenschaft motivieren konnte und so die nötigen Finanzmittel eingeworben hat. Der bereits zugesagte, aber wegen formaler Details der Förderrichtlinien nicht gewährte Zuschuss von 400.000 € aus Bundesmitteln erforderte zusätzliche Anstrengungen, die allesamt gelungen sind.
Ob liturgischer Dienst oder Konzert, die neue Winterhalter-Orgel der Wiblinger Basilika durchdringt den Raum und nutzt die hervorragende Akustik mit ihren intensiven, aber differenzierten und farbenreichen Klängen. Möge die "verstummte Tonkunst" durch ihre Sprecherin, die Orgel, die Herzen der Menschen berühren!